Gotthard hat nichts zu tun mit Göschenen - Airolo

Text: Monthy
Bilder: Cover/Monthy
"Domino Effect ist ein scharfes Geschütz...", entlocke ich Gotthärd-Sänger Steve Lee eigentlich bevor unser Talk im Rahmen des Gotthard-Promo-Marathons richtig anfängt. Ich fordere ihn auf, mir noch etwas zum neuen Studioalbum zu erzählen. Steve: "Ich bin sehr happy über das neue Album, wir haben sehr viel Herzblut rein gesteckt. Ich glaube es ist ein frisches, freches, rockiges Album geworden. Nummer 9 zwar schon, was viele staunen lässt. Nach 16 Jahren ist es nicht der Normalfall, dass eine Band so ein Album veröffentlicht. Man sieht, glaube ich, keine Ermüdungserscheinungen. Gut, schlussendlich müssen das die Leute bestimmen, aber ich habe ein gutes Gefühl Wir konnten noch aus den Live-Auftritten eine Frische mit auf das Album nehmen. Ende Oktober, Anfang November waren wir ja noch unterwegs in Griechenland und Südamerika. Wir sind dann ziemlich schnell ans Album ran gegangen, haben mit dem 'Live'-Feuer Songs geschrieben und es teilweise so auf Band gebracht. Das führte auch zu Stress-Situationen, aber die sind wir bewusst eingegangen. Wir wussten von all den früheren Erfahrungen, dass es nicht gut ist, wenn wir uns zu viel Zeit nehmen. Wenn wir das ganze erstmal zwei, drei Monate geniessen wollen, fehlt für die neue Produktion ein gewisses kreatives Flair. Man wird auch gerne etwas träge und muss sich wie ein Sportler neu motivieren."
Gotthard - Auch das Design hat sich etabliert
"So kann man sich auch nicht zu viele Gedanken machen...", rege ich an und Steve geht darauf ein, "Genau. Diese Musik kommt auch aus dem Bauch heraus - Hirnwixerei bringt nichts..." Nach dem letzten Studioalbum "Lipservice" fühlen sich ja viele - vor allem die Rocker unter den Gotthard-Fans - richtiggehend erlöst. Das war doch geradezu eine Einladung für die Band, sich zu viele Gedanken zu machen... - Steve: "Ja schon. Jeder Plattenfirmenboss würde uns jetzt raten, mehr Balladen zu machen und auf harte Gitarren zu verzichten, weil die am Radio nicht gespielt werden. Das war sogar noch mit 'Lift you up' so. Dabei ist das wirklich nicht gerade Black Metal. In dem Sinn wird man schon etwas kastriert. Uns ist aber ein guter Spagat zwischen Classic Rock/Hardrock, wie immer man das auch nennen mag, und sanften Tönen gelungen. Es hat für jedermann etwas drauf und es hat einen roten Faden, nämlich den von Rock'n'Roll." Gotthard wird ganz einfach langsam zum Klassiker. Das zeigt sich in vielen Dingen. Wenn ich beispielsweise nachfrage, ob das Cover und die Single "The Call" einfach nur zufällig im früh-gotthardlichen "Dial Hard"-Design daherkommen? - "Das ist Zufall. Der Grafiker kommt aus Deutschland und hatte mit 'Dial Hard' nichts zu tun. Ich glaube, der weiss nicht einmal davon... Wir hatten tatsächlich etwas wenig Zeit, um Ideen zu sammeln. Wir fanden, ein Telefon kann man bringen..." - Hauptsache, es hat sich nicht in ein Handy vewandelt, nicht? - "Unsere Roots sind halt eher in den 70er/80er Jahren", gesteht Steve und fährt, begeistert vom Thema fort, "Mit der Musik ist es ja wie mit den Kleidern. Jeans waren mal total out, durften vor fünfzehn Jahren kaum mehr getragen werden. Seit zehn Jahren sind sie wieder da. Wenn die Kids heute 'The Jets' hören, frönen sie in meinen Augen einer neueren Kopie von 'The Who'. Das kommt alles immer wieder." Auch Gotthard ist dem unterworfen. Dieses eher unterbewusste Recyclen einer eigenen Idee aus den Anfangszeiten zeichnet Gotthard in meinen Augen speziell aus, weil es zeigt, dass die Band, bei aller Erneuerung, ihren Stil immer behalten hat.
Steve Lee - charismatische Stimme der Band
"Wenn man alle Alben gehört hat, weiss man, dass auch wir unsere verschiedene Phasen hatten. Wir haben etwas experimentiert, ob das jetzt gut oder schlecht war. Im Nachhinein ist immer einfach zu sagen, aber ich hätte sicher auch einiges anders gemacht. Stolz bin ich aber darauf, dass die Story immer weiter geht - im Ausland sogar um einiges besser als in den letzten Jahren. Und in der Schweiz können wir sowieso nicht mehr viel mehr erreichen", bereitet Steve meine nächste Frage vor. Der Name "Domino Effect" könnte man nämlich momentan auch so interpretieren, dass Gotthard in verschiedensten Ländern (Spanien, Russland) in jüngster Zeit der Durchbruch gelungen ist. Diese Länder fallen also wie Domino-Steine. Steve? - "Wir haben zuerst den Song geschrieben und gleich gedacht, es wäre ein guter Albumtitel. Allerdings bezieht sich die Metapher mit dem Dominospiel mehr auf die Songs. Dass du den ersten Song hörst und nicht mehr aufhören kannst. Jedes unserer Alben ist ein bisschen wie ein Film oder ein Konzert gestaltet. Du hast zwei, drei schnellere Sachen, dann eine ruhige Phase, dann zieht es wieder an, geht voll ab... Insofern habe ich mich schon öfter dabei ertappt, das Album durch zu hören, obwohl ich eigentlich nur einen Song hören wollte. Ein Song führt zum nächsten - das ist für mich ein gutes Zeichen." Und genau so tönt auch der Album-Opener "Master of Illusion", der irgendwie fast zu klassisch tönt für Gotthard. Wenn man dann genauer hinhört, ist es schon passiert. Man verfällt dem Domino Effect. Dieser eingespielten Mischung ist als Rocker aber auch kaum zu widerstehen. Gotthard haben nicht das Rad, dafür sich selbst mit den letzten beiden Studioalben neu erfunden und nur das Beste aus der Vergangenheit mitgenommen. Nachdem sie eine zeitlang als Japan-Export belächelt wurden, macht es ihnen live und international natürlich ganz besonders Spass. Steve: "Man muss sehen, dass wir in einem Alter sind, in dem die meisten Bands schon aufgehört haben. Unser Erfolg ist zwar auch eher spät gekommen. Die Zeit ist dabei etwas auf unserer Seite. Denn als Fussballer kannst du noch so viel Erfahrung haben, wenn die Beine nicht mehr mitkommen, ist es vorbei. Als Musiker ist es einfacher, auch wenn ein Konzert oder eine ganze Tour physisch nicht einfach durchzuhalten sind. Die Erfahrung bringt uns aber eigentlich mehr als die Kondition. Man weiss, was man kann. Was man besser bleiben lassen sollte. Man hat einige Fehler gemacht, die man nicht mehr wiederholen will, meist eher organisatorischer als musikalischer Art. Dieser zweite Frühling ist effektiv da. Wir hatten einige Wechsel im Managment, in der Plattenfirma und wir haben die Zügel selbst in die Hand genommen."
Von links: Freddy, Monthy, Steve
Dass Gotthard ihre internationalen Erfolge erst jetzt richtig zu feiern beginnen, hat ja auch sein Gutes. Die gewonnene Erfahrung dürfte dabei viel Wert sein. "Wäre der Erfolg international am Anfang gekommen, hätte die Gefahr bestanden, dass es einem in den Kopf steigt. Dass man sich zurücklehnt und denkt, es läuft ja. Auf die Schweiz bezogen, ist es mit Gotthard eigentlich immer voran gegangen, Platin, Doppelplatin. Aber im Ausland mussten wir uns einen abverdienen. Da war es lange stagnierend. In vielen Ländern, wie in Spanien, wo es momentan tierisch abgeht, hat uns lange einfach niemand geholfen. Es ist dann schon frustrierend, wenn du vor AC/DC in Turin vor 50'000 spielst und niemand von der Plattenfirma kommt vorbei, um dir die Hand zu schütteln. Wenn die Platten nicht in den Läden stehen, ist das einfach brutal. Du bist ausgeliefert." Gotthard sind dabei weit herum gekommen - fast zu weit wie der Hühnerhaut-Gitarren-Hammer "Gone too far" auf ihrem neuesten Werk anzudeuten scheint. Die Realität aber ist eine andere. Den internationalen Durchbruch definitiv zu schaffen, würde jedenfalls Amerika mit einschliessen, was Steve für eher unwahrscheinlich hält: "Es wäre schön. Aber Amerika ist momentan ein bisschen eine Utopie. Es ist zwar eine andere Sparte, aber wenn nicht einmal Robbie Williams eine Chance hat... Man muss schon die Füsse am Boden behalten. Was bringt es uns, jetzt nach Amerika zu gehen. Ohne richtige Tour, ohne finanzielle Unterstützung? Und Amerika erobern? Wir müssten ja in jedem Kaff vor zwanzig, dreissig Besoffenen spielen, um überhaupt beachtet zu werden. Klar, wäre Erfolg in Amerika ein Traum, der Traum jedes Musikers, den ich kenne. Aber die Welt ist zum Glück gross genug. Und es gibt so viele Länder, die am Kommen sind. Skandinavien beispielsweise - allein in Schweden werden dieses Jahr fünfzehn Konzerte stattfinden. Das sind Länder, die neu dazu gekommen sind oder in denen wir - wie England - fünfzehn Jahre land nicht mehr gespielt haben. Jetzt sind die Antennen wieder draussen. Vielleicht ist das auch nur so, weil Rockmusik eben wieder populärer geworden ist. Dann kann ich schmunzelnd sagen, wir haben uns vierzehn Jahre lang aufgewärmt - wir sind bereit!"
Next Please - Promo Marathon in der Zürcher Aya-Bar
Und das sind sie auch. "Domino Effect" wirkt wie kräftiges Donnergrollen vom musikalisch gesprochen höchsten Berg des Landes herab. Eine Ballade wie "Falling" bringt mutig die Geigen zurück und lässt - wohl erstmals überhaupt - die Tambouren marschieren. Der Song windet sich verloren in Raum und Zeit - ein Gefühl, das nur ein Steve Lee erzeugen kann. Ich nutze die Gelegenheit, Steve provokativ zu fragen, ob das Gitarrenriff von "The Oscar goes to..." nicht eigentlich aus "Anytime, anywhere" stammt. Steve summt die Töne vor sich her und sieht mich entwaffnend an. "Ähnlich...", gesteht er lächelnd, "Wir haben viele ähnliche Riffs. Wenn ich ein 'Mountain Mama' oder ein 'She goes down' nehme... So die drei Noten, die man halt im Hardrock kennt. Es gibt auch viele Lieder mit dem gleichen Text. Eigentlich ist es erstaunlich, wie viele Songs sich aus nur zwölf Noten machen lassen." Und ein gutes Riff, leicht abgeändert versteht sich, vermag denn auch mehr als einen Song zu tragen. Steve hakt nach: "Tatsächlich hast du da etwas ganz Witziges festgestellt. 'Anytime, anywhere' ist in Spanien ziemlich abgegangen. Und 'The Oscar goes to' ist der momentane Lieblingssong der Spanier..." Obwohl noch einige tausend Worte vom Feierabend entfernt, muss Steve dann nicht lange nachdenken, um meine letzte, augenzwinkernde Frage zu beantworten. Wann macht Steve Lee eigentlich einen auf Göschenen - Airolo? Steve lacht: "Momentan ist schon ein bisschen viel los mit Interviews und sonstigen Terminen. Irgendwann ist es dann schon schön, wenn der Gotthard nur noch ein Berg ist und ich abschalten kann... Aber es ist halt einfach mein Ding, unsere Band..." - Und schon bittet die attraktive Schwester den nächsten Patienten herein...
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