Chart-Zoff: Warum ausgerechnet jetzt?

20.6.2011/Text: Ko:L, Bilder: Trespass-Archiv
Adrian Stern, einst Mundart-Indierocker in einer Nische, wird mit Platin ausgezeichnet, Philipp Fankhauser, einst Schweizer Blueser mit echten Tränen in den Augen weil keiner seine harte Arbeit zu schätzen schien, ebenso. Der Zürcher Selfmademan Bligg verkauft Platten wie Apple iPhones und mit Anna Rossinelli schafft eine Strassenmusikerin den Sprung ins Finale des Eurovision Song Contests. Man könnte meinen, in der Musikschweiz habe es sich nie besser leben lassen, als just jetzt. Und plötzlich bricht ein Gewitter über die Musik-Industrie hinein, das sich zum Orkan ausweiten könnte. Von Manipulation und Betrug ist die Rede, die Hitparade soll nicht wirklich darstellen, welche Musik die Menschen kaufen, die grossen Plattenfirmen sollen Kleine und Radios regelrecht am Gängelband führen. Die Vorwürfe sind derart ernsthaft, dass die Eidgenössische Wettbewerbskommission ein Verfahren eingeleitet hat, im schlimmsten Fall könnten Plattenfirmen zu Millionen-Bussen verknackt werden.
Adrian Stern
Den Stein ins Rollen brachte Shigs Amemiya, Inhaber von imusician digital; einem Zürcher Label, dass Musik ausschliesslich digital vertreibt. Ihm ist in die Nase gestochen, dass „seine“ Band Da Sign and the Oposite mit dem Heuler „Slow down, take it easy“ nicht chartete, obwohl der Track auf iTunes weg ging, wie warme Semmeln. Nicht nur, dass die IFPI, Branchenverband und Herrin über das geheime Hitparaden-Reglement den Song nicht für die Charts zuliess, sondern auch dass seinem Label der Beitritt im Verband verweigert wurde. Mittlerweile ist der Zoff soweit gediehen, dass sich nicht nur Szene-Fuzzis mit dem Thema beschäftigen – Medien wie Blick, das SF-Magazin 10vor10 oder diverse Sonntagszeitungen haben das Thema aufgegrifen. „Das Hauptproblem liegt glaube ich darin, dass die Schweizer Musikszene – Musiker, Indie-Labels, Vertriebe, Managements – von den grossen Labels eingeschüchtert ist“, antwortet Shigs auf die Frage, warum Missstände, die seit Jahren herrschen sollen, erst jetzt angeprangert werden. „Vertriebe mussten befürchten, von PhonoNet ausgeschlossen zu werden. Managements, deren Künstler der Weg in die Charts verwehrt geblieben war, wollten die Chancen ihrer Schützlinge, bei einem grossen Label zu unterschreiben, nicht aufs Spiel setzen. Musiker träumen nun mal davon, von einem der vier grossen Plattenlabels unter Vertrag genommen zu werden. Aber das entspricht leider einfach nicht der Realität. In der Schweiz gibt es mehr als 5000 Acts, davon sind in der Pop/Rock Arena gerade mal 15 bei einem Major Label.“
Tinkabelle
Das Gewitter am Schweizer Musik-Himmel sorgt freilich auch in Deutschland für Aufsehen. Tim Renner schreibt in seinem Artikel auf Motor.de, "Gruezi Amigos", über die Band TinkaBelle unter die Lupe nimmt. „Wenn der Managing Director der Marktforschungsfirma, welche die Charts zusammenstellt, plötzlich in der Band seiner Partnerin Schlagzeug spielt und diese Band aus dem Nirgendwo auf die No. 2 hievt und dann vor der gesamten Musikindustrie an den Swiss Music Awards - organisiert von einem Ex-Kollegen bei Warner - auftritt, dann wirkt das – egal wie gut die Band auch sein mag – etwas suspekt“, sagt imusician-Inhaber Amemiya. Er ist überzeugt: „Es geht hier um einen gewaltigen Interessenskonflik:.Es ist wie wenn der Präsident der weltweiten Anti-Doping Kommission Lance Armstrongs Tour de France-Team unter den Fittichen gehabt hätte. Es ist Unprofessionalität in höchstem Grade.“ Und die IFPI? Die hat sich bisher gegenüber keinem Medium zur laufenden Untersuchung durch die Wettbewerbskommission geäussert. Hitparaden-Sender DRS3 wünscht sich vom Verband, dass das Hitparaden-Reglement öffentlich gemacht werde. Mehr nicht.
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