Nerve: Live Drum’n’Bass vom Feinsten!

Text: Sermeter
Bilder: Imre Barta
Viel zu wenig Leute wissen hierzulande, dass einer der besten Schlagzeuger der Welt breitestes Züritüütsch spricht; die Rede ist von Jojo Mayer, welcher in Zürich aufgewachsen ist, bevor er nach New York, wo er bis heute lebt und arbeitet, auswanderte. Bereits 1998 gründete er seine heute wichtigste Band Nerve. Zur aktuellen Besetzung, welche seit nunmehr acht Jahren Bestand hat, gehören der Schweizer Toningenieur Roli Mosiman, der japanische Keyboarder und Trompeter Takuya Nakamura und der amerikanische Bassist John Davis. Nerve – damals als Experiment gegründet – sind heute in der New Yorker Drum’n’Bass-Szene eine feste Institution. Die Live-Umsetzung von ursprünglich rein elektronischer Musik war die Idee hinter dieser Band und ist es auch heute noch weitgehend. Am 2. Oktober machten die vier Querdenker auf ihrer kurzen Europatour auch im Aarauer Kiff Halt – und ich erhielt die einmalige Gelegenheit, mich vor dem Konzert mit Jojo Mayer zu unterhalten.
Nerve live
„Wir lehnen uns texturell an DJ-Kultur und elektronische Musik, weil diese einfach am neusten klingt. Computergenerierte Musik ist halt digital, einfach null und eins. Wir bedienen den Raum dazwischen“, antwortet er, als ich wissen will, warum er sich mit dieser Band gerade diesem Genre widmet. Meine Frage, ob Nerve also neue Musik mit alten Mitteln wiederzugeben versuchen, verneint er vehement: „Nein, überhaupt nicht. Ich sehe das so: Was zuerst Bach, Beethoven und Stravinski und dann Charlie Parker, James Brown und The Beatles und jetzt Kraftwerk und Photek gemacht haben, war eigentlich immer dasselbe. Der Funke, aus dem das, was die alle gemacht haben, ist, war immer der gleiche. Nur das Zeitfenster hat sich verändert – genau so, wie sich die Mode verändert. So bewegen wir uns nicht zurück, sondern wollen an diesem Punkt anknüpfen. Ich glaube sogar, dass unsere Musik mit Louis Armstrong mehr zu tun hat, als alles, was heute unter dem Label ‚Jazz’ läuft. Wir gehen auf die Bühne und machen nichts ab, sondern improvisieren – bumm! Und es ist keine Kakophonie, sondern die Leute können dazu tanzen. Armstrong hat das auch gemacht, aber heute macht das niemand mehr, der den Namen ‚Jazz’ für sich beansprucht.“
Nerve live
Jojo Mayer ist bekannt als absoluter Ausnahmeschlagzeuger – in Sachen Technik kann ihm kaum ein anderer das Wasser reichen. Seit wichtigstes Anliegen scheint aber tatsächlich die Weiterentwicklung der Musik und die Begehung neuer Wege zu sein: „Die Musikszene ist aktuell insgesamt ein ziemlich lahmarschiger Haufen. Im letzten Jahrhundert gab es fast in jedem Jahrzehnt wieder andere Bewegungen, aus denen coole Dinge hervorgegangen sind. Heute hat sich das etwas verloren in einem Einheitsbrei, in welchem es nur noch darum geht, wer die coolste Brille trägt.“ Was ihn antreibt, ist die Herausforderung, in dieser Zeit, in welcher sich die Musik vermeintlich in einer Sackgasse befindet, doch Möglichkeiten zu finden, sich weiter zu entwickeln. „Wir versuchen zum Beispiel, diesem ‚theatralischen Präsentationsrahmen’ zu entfliehen“, führt er weiter aus. „Es ist wichtig, Musik in neuen Zusammenhängen zu präsentieren und aus diesem Vorhang-Auf-Konzert-Vorhang-Zu-Ding herauszulösen. Wir spielen auch gerne ohne Bühne in der Mitte des Raumes.“
Nerve live
Anfangs war es nicht geplant, dass es von Nerve jemals Aufnahmen geben wird. Deshalb wollte ich von Jojo wissen, weshalb mit „Prohibited Beats“ nun doch ein Album erschienen ist. „Ich definierte Nerve immer als Live-Produkt“, antwortet er. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass es von uns keine Platten geben wird – und war damit der Zeit wohl einfach zehn Jahre voraus, denn heute haben CDs ihren Stellenwert tatsächlich verloren. Weil aber die Leute immer nach Aufnahmen gefragt haben, haben wir dann halt doch welche gemacht und in einer Auflage von wenigen tausend Exemplaren an den Gigs verkauft. Da unsere Entwicklung aber ziemlich rasant ist und deshalb dieses Album bereits nicht mehr dem entspricht, was wir heute machen, lassen wir davon keine Tonträger mehr herstellen. Über iTunes wird es aber erhältlich bleiben.“ Für nächstes Jahr ist ein zweiter Release geplant. Ob dieser aber überhaupt je auf CD gepresst wird, steht noch nicht fest. „Wieso soll man heute noch ein Album machen? Dieses Konzept wurde von der Zeit überholt. Die ganze Sache mit CDs und Plattenfirmen ist ein Paradigma, das hat sich zu Tode gelaufen.“ Als ich wissen will, ob er denn nicht daran glaube, dass das wieder einmal aufleben wird, winkt er ab: „Das glaube ich nicht. Man kann das Rad der Zeit nicht zurück drehen. Aber es wird etwas Neues kommen.“
Nerve live
Dass der anschliessende Gig den höchsten Ansprüchen gerecht zu werden vermochte, erstaunte wohl keinen der Zuschauer im gut besuchten, aber nicht ausverkauften Kiff. Nerve spielten zwei Sets, welche zusammen gute zwei Stunden dauerten. Jojo hatte nicht zu viel versprochen: Mit den zum Teil über zwanzig Minuten dauernden Jams wurden einerseits verschiedene Genres aus der DJ-Kultur bedient und andererseits musikalische Wege beschritten, für die es wohl tatsächlich noch keinen Namen gibt. Das Publikum zeigte sich (wen wundert’s?) begeistert – getanzt wurde allerdings nur verhalten. Dafür war der Sound definitiv zu komplex. „Manchmal funktioniert’s und manchmal nicht. Häufig sind die Leute überfordert. Wenn wir zwanzig Minuten lang einen Beat spielen, passiert für ein Konzert zu wenig und zum Tanzen ist es dann doch zu anspruchsvoll. Das Publikum muss sich da auf etwas Neues einlassen. Einige haben das schon geschafft und andere haben damit noch Mühe. So ist das mit allem, was neu ist“, meint Jojo dazu. Wie Recht er hat!
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