Wenn Rocker zur akustischen Gitarre greifen!
9.4.2012; Text: Sandy, Bilder: Valérie Stucki
Konzert-Berichte auf www.trespass.ch entstehen, weil wir extra dafür angefragt werden. Es kann auch sein, dass es für den Schreiberling ein Bedürfnis ist, darüber, zu schreiben. Oder eben wie heute, weil die Autorin eine Wette verliert! Vor ganz genau zwei Wochen traf ich per Zufall Serge Christen im Kreuz Nidau. Er erzählte von der bevorstehenden Taufe seiner Akustik-EP und wollte mich zum Schreiben animieren. Nebenbei erwähnte er, dass er seit heute stolzer Besitzer einer Trompete sei. Der langen Rede kurzer Sinn: Per Handschlag haben wir damals abgemacht, wenn er am Karfreitag hier auf dieser Bühne in sein neues Instrument bläst, werde ich über sein jetziges Schaffen berichten, anstatt Ostereier zu färben. Deshalb folgt jetzt diese Story.
Serge Christen kennt man als Sänger und Gitarristen der Bieler Garagenrocker Modern Day Heroes. Zurzeit hat er seine Helden zum Skifahren oder Filmen geschickt und tourt nun zur Abwechslung mal mit der akustischen Gitarre durch die Gegend. Er nennt sich ganz diplomatisch Sir Joe (ausgesprochen:„Sörtschou“). Seine Butler sind drei musikalische Könner, nämlich Dave Maegert (Drums), Andreas Menzi (Bass) und Manu Bakaus (Keys). Heute Karfreitag werden fünf auf einer CD festgehaltene Songs getauft. Wer nun einen ruhigen Folksänger erwartet, mit Gitarre sitzend vor einem Kerzenständer, wird enttäuscht. Die Songs von Sir Joe sind überaus lebendig, rockig, jazzig - chaotisch. Und immer wieder erscheint in meiner Phantasie eine hübsche Zigeunerin, die in ihrem farbigen Kleid dazu tanzt und vor allem mitklatscht. Überhaupt ist das Publikum begeistert von Serges neuer musikalischer Abenteuer-Reise. Sein Trip lebt von Unvorhersehbaren, von Impressionen. So werden vergessene Dankesreden mitten in einem Song gehalten. Und er zeigt uns begeistert das Video von Modern Day Heroes Drummer Simon, welches Serges Handy aus dessen Skiferien empfangen hat.
„Vor fünf Jahren habe ich entdeckt, was für eine Begeisterung, der Klang einer akustischen Gitarre hervorruft“, sagt Serge nach seinem Konzert. Der Grund, dass er dieses Instrument hervorgenommen habe, war die schwere Krankheit seines Vaters. „Genau dieser Klang hat mich getröstet“, gesteht der Musiker weiter. Daraus sei eine unglaubliche Leidenschaft entstanden und es passierten unzählige Songs. „Für mich ist eine neue Welt aufgegangen“, stellt der Star des Abends fest und seine müden Augen strahlen. „Ich liebe das musikalische Rastlose“, outet sich der Sir weiter und ergänzt: „Meine Familie sagt immer, ich habe Zigeunerblut in mir.“ Ob Retrorock, Garagenrock, Folk oder Gipsy-Musik, Serge lässt sich von allem begeistern. Er kann und will sich nicht festlegen. „Ich finde es sehr schön, dass ich die Sir Joe-Songs nicht für eine bestimmte Sparte umbiegen muss“, stellt er fest. Das sei bei Modern Day Heroes schon anders. Jetzt kann er all seinen Ideen gerecht werden und eine ganze Wundertüte mit seinen unterschiedlichen musikalischen Leidenschaften füllen. Genau diese Narrenfreiheit beschert seinem Sound eine abwechslungsreiche Struktur. Diese nicht planbare Freiheit mussten auch die Live-Jungs von Sir Joe akzeptieren. Sie spielen sonst in einer eher geordneten Pop- oder Funk-Band. „Wenn wir auf die Bühne gehen, ist es nur pure Leidenschaft“, ordert der Chef an. Leidenschaft, leidet bekanntlich immer wieder anders. „Wir spielen so, wie wir es in diesem Moment fühlen“, weiss er nur nach den ersten Live-Erfahrungen. Und so seien die Rhythmen nicht immer gleich schnell. Der Sound passt sich dem Publikum und der Stimmung an. Kein Konzert wird gleich sein.
Das Wort ‚authentisch“ hat Serge heute mehrmals gehört. Er versucht es so zu erklären: „Beim Song schreiben, ist es mir nie so vorgekommen, als hätte ich einen Song geschrieben. Es ist eher, ein Abschreiben meiner Gedanken“ weiss er. „Du siehst den Text, singst ihn und spielst einfache Akkorde dazu“, sagt der Musiker weiter und trifft es noch besser mit diesen Worten: „Es ist pur mein Leben. Es ist nichts dazu gedichtet, sondern Geschichten, die in meiner kleinen Welt passieren.“ Genau das bewegt ihn, und präsentiert den Serge, den wir sonst auch kennen. Dadurch, dass die Leute nun eher hinhören, als beim MDH-Rock, sind die Texte jetzt viel differenzierter. Beim Rock werden Emotionen der Rebellen heraus gespuckt. Bei den Songs von Sir Joe geht es in die tiefere Seelenebene.
Wie zum Bespiel, als Serge seine EP „Half The Story“ zum ersten Mal in den Händen hielt. Genau dann sei aus seiner Begeisterung plötzlich Trauer geworden. „Ich habe gespürt, dass die verstorbene Schwester meiner Frau, diese Musik lieben würde“, sagt der Musiker. In diesen Gedanken entstand ein neuer Song - sowohl als Trost und als Zuversicht. „Ich werde ihn an jedem Konzert spielen“, weiss Serge. Obschon der Text von ihr handelt - sehr traurig stimmt - ist die Melodie eher, wie ein herziges Kinderlied. So verfliegt die aufkommende Traurigkeit richtiggehend. Sir Joe ist mehr als ein Projekt von Christen. Es ist eine Lebensverwirklichung. „Das ist etwas, was ich nicht stoppen kann, es ist hundertprozentig mich“, sagt er. „Ich liebe es, wenn es mir gut geht. Wenn nicht, dann beisse ich mich durch“, gesteht der Mensch, der doch mehrheitlich die Sonnenseite auslebt. Er merke, dass in seinen Songs die Hochs und Tiefs der Achterbahn seines Lebens zusammenfliessen. „So kannst du alles verarbeiten. Das ist ein riesen Geschenk und besser als jeder Psychiater“, stellt Serge mit einem Augenzwinkern fest.
„Der schönste Moment ist der Moment, wo ein Song passiert“, gesteht sich der emotionsgeladene Musiker ein. Meistens geschehe es, wenn er alleine ist. Ein sei ein unglaublich schönes Gefühl, zu spüren, wie die Harmonie der Gitarre und des Gesangs sich finden. Genauso ein Augenblick sei speziell und bleibt einmalig. „Zu diesem Zeitpunkt muss ich mich niemandem beweisen. Es spielt keine Rolle, ob ich falsch singe oder nicht“, stellt der Songwriter fest. So einen Moment bleibt. Er kann nie übertroffen werden. „Der Moment, wo es passiert, hast nur du allein“, hält Serge fest. Im Proberaum möchtest du diesem Erlebnis gerecht werden, willst es nochmals erfahren und prompt veränderst du es schon“, weiss er weiter. Die einfachsten Songs berühren am meistens. Lieder, mit einer komplexeren Struktur, seien beim Live-Spielen zwar eine interessante Herausforderung. Serge hat aber selber erfahren: „Für dein Herz benötigst du nur die Einfachheit. Genau so schlägt es ja auch.“
Und zum Schluss erklärt mir Serge, wie hoch das Ziel für ihn doch war, die Trompetenwette zu gewinnen. Er habe zwar als Kind schon dieses Instrument gespielt, aber das sei zwanzig Jahre her. „Damals war ich ein kleines Kind. Jetzt bin ich ein grosses Kind. Ich habe es völlig verlernt“, sagt er lachend. Er musste sich schlussendlich via Internet schlaumachen, welcher Ton mit welchem Ventil gespielt wird. Das Projekt Trompete wird weiterverfolgt. Serge möchte ganz viele Instrumente, in sein Repertoire aufnehmen: Mandoline, Banjo, Bass-Horn, Tuba. „Jedes hat einen eigenen Klang und bewirkt dadurch auch etwas anderes“, weiss der Mutige. Und ich lasse mich besser nicht mehr so auf eine Wette ein, denn jetzt weiss ich, dass Sir Joe mehr als Projekt ist, und die Phantasien und das Können des Musikers dahinter, kennen keine Grenzen.