Stiller Has - Alter schützt vor Weisheit nicht

1.4.2013; Text: Monthy, Bilder: Michael Schär/Stiller Has
Cover Böses Alter von Stiller Has
Diese Kombination musste irgendwann einmal kommen. Und warum nicht jetzt wo Stiller Has langsam zu den Dinosauriern unter den Schweizer Bands gehört (Grundüngsjahr 1989)? Endo Anaconda, der Polterer der Nation, nimmt sich das Alter vor! Wo doch eh alle immer nur daran herum mäkeln. Oder versuchen ihm zu entfliehen. Und man muss denn auch nicht lange suchen, um etwa im Titelsong "Böses Alter" tätowierte Rentner und "Vollkasko-Rocker" zu finden. Ich will den Spiess nun ein wenig umkehren, denn ich habe mich gefragt, wie sich denn der Jugendwahn bei Endo selbst auswirke? "Ich habe jugendliche Kinder", leitet er ein und findet sowieso, "ich habe mich meiner Lebtag immer als Ein-Mann-Jugendbewegung gesehen, obwohl ich eigentlich gar nie jung war." Endo spricht hier wohlgemerkt als Musiker. Auch als er fortfährt: "Andere waren in dem Alter, in dem ich mit Musik angefangen habe, bereits tot. Ich war weit über 30 und als Rockmusiker gehört es zum guten Ton, mit 27 zu sterben." Damit wäre er jetzt 30 Jahre überzählig, verrät er mir noch schmunzelnd sein aktuelles Alter - 57. Ob es denn früher einfacher oder schwieriger gewesen sei, älter zu werden, frage ich beim Fachmann nach. Denn schliesslich zieht sich das Alter wie ein roter Faden durch das Album. Endo hat sich mit allen Aspekten auseinander gesetzt und muss es nun also wissen. "Ich denke, man wurde früher gar nicht dermassen alt", spricht Endo das gestiegene Durchschnittsalter an und ein Phänomen, das er vielleicht auch im Song meint. Das Alter wird heute gerne ignoriert oder in Endos Worten: "Man ist heute erst kurz vor dem Tod noch schnell alt."
Pressefotos Stiller Has, Fotograf Michael Schär
Und das muss nicht unbedingt gut sein. Ich habe mir etwa aus "Chätschgummi" eine Passage heraus gestrichen. Das Bild vom ersten Kuss scheint Endo noch heute detailgetreu vor Augen, was er mit den Worten "es si ufe Tag genau 45 Jahr" datiert. Ich kann mich dagegen schon heute oft nicht mehr an Gesichter und Bilder aus meinem Leben erinnern - die wirklich wichtigen werden mir aber erhalten bleiben, sofern ich Endo glauben darf. - "Das mit den 45 Jahren stimmt, auf den Tag genau ist etwas dichterische Freiheit - aber seinen ersten Kuss vergisst man nie." So hat er denn nicht nur das Bild plastisch in Erinnerung, "sondern auch den Kaugummi von damals - Wrigleys, Pfefferminz!" Ich stochere noch ein wenig und frage, ob es eine Rolle spiele, ob einem etwas auf seinem Weg begleite - oder ob man es umso stärker vermisst, weil man es nicht hat. Endo differenziert korrekterweise: "Nichts aus der Vergangenheit kann einen ständig begleiten. Ich denke, wir formatieren unser Gehirn so, dass wir die wesentlichen Sachen behalten. Viele Dinge kommen einem dann im Alter wieder in den Sinn. Der erste Kuss ist aber etwas, das man eh nicht vergisst"
Pressefotos Stiller Has, Fotograf Michael Schär
In "Chlyni Wäut" ist Endo der Pilot, der die Leute dorthin bringt, "wo's nid so ygchlemmt isch" - all inclusive zu den letzten Paradiesen dieser Welt. Der Song handle davon, "dass man nicht entfliehen kann. Sogar wenn man auf die Malediven fliegt oder in den Dschungel geht. Man muss wieder zurück. Über elf Monate im Jahr geht die Sonne in Ostermundigen auf und in Bümpliz unter - wenn man in Bern lebt." Interessant sei ausserdem, dass man überall auf dieser Welt Schweizer antreffe, meint Endo. "Die Schweizer sind wohl das reisefreudigste Volk der Erde. Aber ich habe festgestellt, dass es fast überall gleich ist. Nur die Tapete ist anders." Deshalb gehört Endo eben nicht zu den Malediven-Touris. Weit gereist hingegen ist er sehr wohl. Endo: "In meiner Jugend war ich in Afganistan, in Nepal, in Indien, Thailand - aber ohne Geld oder mit sehr wenig davon. Dafür mit viel Zeit. Heute ist es umgekehrt. Wenn man aber mit viel Geld und wenig Zeit reist, ist es in Gottes Namen überall gleich. Man lernt nicht wirklich neue Kulturen kennen." Das Negativbild, das er dann noch beschreibt - ein Paar heiratet auf den Malediven und wird vom Priester in Hindi beschimpft, ohne dass sie es überhaupt merken - ist mir Horrorvorstellung genug. Reisetechnisch gehört Endo definitiv zu den Individualreisenden - und das nicht erst im AHV-Alter und vor allem: Je länger je weniger. "Das ganze Verhältnis stimmt einfach nicht. Für einen Ferienflug kann ich ein ganzes Jahr VW Golf fahren, von den Emissionen her. Auch mit der Mystifizierung des Südens müsste man mal aufhören - die Realität ist, dass 50% arbeitslos sind und alle kurz vor dem Ruin ohne medizinische Versorgung."
Pressefotos Stiller Has, Fotograf Michael Schär
Obwohl ich es immer besonders schwierig finde, etwas über Endos Songs zu sagen - und den Schöpfer auch noch selbst damit zu konfrontieren. Man mag es mir nachsehen. Aber ich tue es, auch wenn ich in "Gränze" und "Schatte" etwas gefunden habe, dass auch als Thema schwierig ist. Wenn man das Altern aber konsequent zu Ende denkt, kommt man: zum Tod. Endo stellt dies jedoch in Abrede: "Ich glaube, es kann gar keine Songs über den Tod geben, weil er für uns ein unbekanntes Terrain ist. Wir kennen nur das Leben... 'Schatte' dreht sich mehr darum, dass jeder von uns auch eine andere Seite hat. Eigentlich sind wir multiple Persönlichkeiten. Wir erscheinen einem Gegenüber als eine Person und uns selbst gegenüber auch. Nur wissen wir oft selbst nicht genau, wer wir eigentlich sind. Es ist auch ein Song darüber, dass es den absolut guten - und den absolut bösen - Menschen so nicht gibt." Abschliessend berufe ich mich auf ein Sprichwort, das Stiller Has am Schluss ihres Booklets zu "Böses Alter" abgedruckt haben: "Das grösste Übel der heutigen Jugend besteht darin, nicht mehr dazu zu gehören." Die Ironie von Dali fällt mir dabei durchaus auf und lässt mich schmunzeln - nur: worauf kann ich mich denn im Alter nun freuen, Endo? - "Man wird weiser. Und man versteht es besser, das zu geniessen, was einem das Leben bietet. Man weiss auch besser, was man kann und was nicht. Der Spruch von Dali ist denn auch die grandioseste Verteidigung der Jugend überhaupt, weil sie zeigt, dass Vorbehalte dagegen dem Neid entspringen. Auf alle Generationen wurde immer geschimpft. Ich denke aber, es braucht mehr Respekt - von Jung und Alt."
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