Untergrund im Oberland: Opfer eigener Kompromisslosigkeit
Text: Ko:L
Bilder: Chris
«Toiletcore, Rosettenpunk und Gentlemenrock» – Die Berner Oberländer Untergrund-Szene hat seit Mittwoch ihr eigenes Geschichtsbuch. «Wir sind alle sehr kultiviert geworden und mittlerweile in einem weinfähigen Alter.» Jörg «Jot» Amstutz versucht die leicht skurrile Szenerie im Café Mokka zu erklären: Das Lokal ist voll mit Jungs und Mädels mit ganz langen, ganz kurzen oder ganz schrägen Haaren; in engen Röhrlihosen, gewöhnlichen Jeans, Trenchcoats, Jeans- oder Lederjacken – ein Glas Weisswein in der einen, Appetithäppchen in der anderen Hand, alle mit lockerem Smalltalk beschäftigt. Wer es nicht besser weiss, wähnt sich an einem Klassentreffen oder einem Kulturevent mit lauter distinguierten, jungen aufstrebenden Kulturschaffenden, von denen der eine oder die andere möglicherweise einen leichten Hang zur Exzentrik hat.
Dabei haben sich im Mokka die Schrecken aller Schwiegermütter des gesamten Berner Oberlands versammelt: The Fuckadies, Tight Finks, Aziz, Uristier, Unhold, Nancy Glowbus, Nekropolis und wie sie alle heissen; all die Rock-, Punk-, Metal- oder sonstwie Gitarrenbands der Berner Oberländer Untergrundszene, die sich in den letzten 15 Jahren um Jot und um das Label Subversiv Records gebildet hat. Für die einen ist Subversiv Synonym für Lärm, Lärm und nochmals Lärm, für die anderen der Freiraum und die Möglichkeit, ihre Musik wenigstens einer gewissen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Nun haben sie sich im Mokka versammelt, um Jots neustes Werk zu feiern: «Toiletcore, Rosettenpunk und Gentlemenrock – Ein Blick in die Untergrund-Musikszene der Region Thun zwischen 1990 und 2005.»
«Ich bin ein Sammler – das Buch die Folge davon», meint Jot. «Tausende» von Bildern seien in den letzten 15 Jahren entstanden, unterwegs mit seinen Bands Uristier und Fuckadies – und all den anderen. «Es ging mir darum, ein Zeitdokument zu schaffen für jenen Teil unserer Generation, der mit Stromgitarren aufgewachsen ist und Ähnliches wie wir erlebt hat», sagt er. Er hat jene Bilder, die nicht in seinen privaten Alben kleben, aussortiert und nach Themen getrennt. Am Ende legte er Collagen aus, fotografierte die Fotos mit einer Digitalkamera ab und stellte aus diesen neuen Bildern sein Buch zusammen. «Wie beim Musikmachen: Einstecken und los.» So ist eine 242-seitige Sammlung von Bildern von jungen Leuten an Rockkonzerten, Bars, in fremden und heimischen Städten, in Garderoben, nachdenklich, in Unterhaltungen versunken, beim Urinieren oder beim Erbrechen entstanden – Bilder des ganz normalen Alltags ganz normaler junger Leute in einer ganz normalen Stadt am Rand der Alpen; rückblickende Zitate von Musikern verschiedener Oberländer Underground-Bands ergänzen die Bilder; ein CD-Sampler und ein 96-seitiges Interviewheft ergänzen den Bildband akustisch und inhaltlich.
«Die Schweiz kennt Thun... nur die Musik nicht. Die anderen Szenen sind nicht besser, sie machen aber irgendetwas besser», ist eines dieser Zitate; jenes über Kapitel 4, «Standortbestimmung, Rückblick, Ausblick». Jot spricht nicht gerne über Erfolg: «Erfolg ist eine Frage der Definition. Leider definieren wir Erfolg heute über Geld und goldene Schallplatten. Aber ich kenne keine andere Mundartband ausser Uristier, die schon einmal in Tschechien Konzertlokale gefüllt hat.» Es sei ihm lieber, in einem vollen Mokka zu spielen als in einem halb leeren Bierhübeli, sagt der singende Autor, der auch Gitarre spielt und eigentlich in der Werbebranche tätig ist. So gesehen sei die Berner Oberländer Untergrundszene vielleicht Opfer ihrer eigenen Kompromisslosigkeit. «Wir haben immer gemacht, was wir cool fanden, ohne je auf irgendeinen Zug aufzuspringen.» Dabei sei es völlig egal, ob eine der befreundeten Bands als Vorband von Mando Diao oder am Openair Gampel spielt oder ob sie in einer Waldhütte für zwanzig Leute abrockt. Und wenn Ruhm und Erfolg auch trotz Buch erst posthum kommen – wie so oft bei grossen Künstlern? «De nime ni ne ono», sagt Jot.